Börsenbericht: Carry Trade-Turbulenzen
Anfang August löste eine unglückliche Gemengelage Turbulenzen an den Kapitalmärkten aus. Die japanische Notenbank erhöhte ihren Leitzins überraschend um 0,15 Prozentpunkte. Nach vielen Jahren einer sehr lockeren Geldpolitik ohne Zinsen signalisierte dieser kleine Schritt eine folgenschwere Veränderung für sogenannte Carry Trades. Gleichzeitig lösten schlechtere US-Konjunkturdaten Rezessionsängste aus. Zudem machten Sorgen um die neuerliche Eskalation des Nah-Ost-Konfliktes die Anleger nervös. Bei den Unternehmensnachrichten enttäuschten die Quartalsberichte von Amazon und Intel die Erwartungen, was bei diesen Aktien mit prozentual zweistelligen Kursverlusten quittiert wurde.
Schockwellen durch Zinsanhebung in Japan
Die Schockwellen gingen aber vor allem von der Anhebung der japanischen Zinsen aus. Weil gleichzeitig bei den wichtigsten Anlagewährungen US-Dollar und Euro die Zinsen gesenkt werden, schrumpft der Unterschied bei den Zinsen schneller als erwartet. Dies lässt den Wechselkurs des japanischen Yen steigen. Dadurch wird die bislang sehr günstige Kreditaufnahme in Yen gleich zweifach teurer: Zum einen steigen die Zinsen für Yen-Kredite, zum anderen müssen für den gleichen Yen-Betrag mehr US-Dollar oder Euro zurückgezahlt werden.
Viele Jahre lang war die Carry-Trade-Strategie erfolgreich. Sie bestand darin, sich in Japan zu günstigen Konditionen Geld zu leihen und höher rentierlich in anderen Währungsräumen, etwa den USA, zu investieren. Die unerwartete Zinserhöhung mit der Aufwertung des Yen stellt diese Strategie jetzt in Frage. Ein Teil der bestehenden Carry Trades wurde umgehend aufgelöst, insbesondere in den Fällen, in denen schon Nachschussforderungen für stark gehebelte Positionen ausgelöst wurden. Die Auflösung von Positionen zur Beschaffung von Liquidität traf neben den Aktienmärkten auch Kryptowährungen wie den Bitcoin, der kurzzeitig vom Juli-Hoch bei 70.000 US-Dollar bis knapp unter 50.000 US-Dollar fiel, sich aber im Monatsverlauf wieder bis auf rund 65.000 US-Dollar erholte.
Historische Verluste am japanischen Aktienmarkt
Der plötzliche und kurzfristig massive Abverkauf traf besonders den japanischen Aktienmarkt, wo der Nikkei-225-Index den zweitgrößten Tagesverlust seiner Geschichte erlitt. Das Ende der ultralockeren Geldpolitik könnte japanische Unternehmen für längere Zeit belasten. Denn die japanische Exportwirtschaft profitierte lange Zeit von ihrer schwachen Währung, weil japanische Güter günstig ins Ausland verkauft werden konnten.
Zinsanhebung schickt Nikkei-225 auf Talfahrt
An den Devisen- und Kapitalmärkten stabilisierte sich die Lage aber rasch. Rückschläge bei Aktien wurden von Investoren als günstige Einstiegsgelegenheit aufgefasst. Zur Beruhigung dürfte die Aussicht auf eine bevorstehende erste Leitzinssenkung durch die amerikanische Notenbank entscheidend beigetragen haben. Die US-Inflationsrate sank erstmals seit Jahren unter die Drei-Prozent-Marke. Und neue Konjunkturdaten sprachen gegen eine Rezession der US-Wirtschaft. Zudem blieb die Eskalation des Nahost-Konfliktes bislang hinter vielen Befürchtungen zurück.
US-Leitzinssenkung in greifbarer Nähe
Das internationale Notenbanker-Treffen in Jackson Hole bestätigte dann die Hoffnung der Kapitalmärkte auf eine Lockerung der Geldpolitik. Jerome Powell, Präsident der Federal Reserve, erklärte, dass die Zeit für sinkende Leitzinsen gekommen sei, da sich die Inflationsrisiken verringert hätten. Spekulationen drehen sich um den Umfang der ersten US-Leitzinssenkung im September. Über das übliche Viertel eines Prozentpunktes hinaus wird nun auch ein Zinsschritt um einen halben Prozentpunkt für möglich gehalten. Vor diesem Hintergrund setzte sich die Erholung an den Aktienmärkten fort. Der Dow Jones Industrial Average näherte sich wieder seinem Rekordwert aus dem Juli bei 41.576 Zählern. Ähnlich der S&P-500-Index mit Werten über 5.600 Punkten. Der noch stärker von den großen US-Tech-Konzernen geprägte Nasdaq-100-Index war von seinem Rekord im Juli bei 20.690 Zählern um gut 15 Prozent auf 17.435 Punkte gefallen, erholte sich aber im Verlauf des Augusts schon bis auf fast 20.000 Zähler. Der japanische Nikkei-225 war in der Spitze um rund 25 Prozent eingebrochen, konnte aber den größten Teil davon wieder aufholen. Auch die europäischen Aktienmärkte kehrten nach den scharfen Kursverlusten Anfang August rasch in die seit April vorherrschende Seitwärtsbewegung zurück.
Anleihemärkte profitieren von Turbulenzen
Die Anleihemärkte profitierten von den Turbulenzen. Auch die rückläufige Inflation und die Aussicht auf fallende Leitzinsen sorgten für Kursgewinne. Die wegweisende Rendite von US-Staatsanleihen mit zehn Jahren Laufzeit, die noch im April in der Spitze über 4,7 Prozent gelegen hatte, fiel Anfang August vorübergehend auf nur 3,67 Prozent, pendelte dann bis an die Vier-Prozent-Marke zurück und blieb im weiteren Monatsverlauf schließlich darunter.
Kursgewinne beim Bloomberg Global Aggregate Bond Index
Während Kryptowährungen unter den Turbulenzen Anfang August litten, zeigte sich der Goldpreis unbeeindruckt. Er kletterte im bestätigten Aufwärtstrend weiter und erreichte in der zweiten Augusthälfte neue Rekorde knapp über 2.500 US-Dollar pro Unze.
Blickpunkt: Was sind Carry Trades?
Als „Carry“ (englisch: tragen) bezeichnet man an den Devisen- und Kapitalmärkten das Ergebnis eines Geschäfts als Unterschied zwischen seinen Kosten und seinem Ertrag (auch im deutschen Wort Ertrag steckt das Verb tragen). Dieses Ergebnis als Differenz zwischen Kosten und Ertrag kann auch negativ sein, also ein Verlust, wenn die Kosten höher sind als der Ertrag. Die Verwendung des Begriffs „Carry“ drückt aus, dass hier die Differenz zwischen dem (positiven) Ertrag einer bestimmten Position (in Wertpapieren oder Währungen) und den (negativen) Kosten zur Finanzierung dieser Position gemeint ist.
Trader nutzen Zinsdifferenzen zweier Währungen
Im engeren Sinne sind deshalb meist Currency Carry Trades gemeint, bei denen die Finanzierung der Position durch Kreditaufnahme in einer Fremdwährung mit niedrigem Zinsniveau erfolgt. In den vergangenen Jahrzehnten wurden für Carry Trades vor allem Finanzierungen in Schweizer Franken und in japanischem Yen genutzt, weil für diese beiden Währungen die Zinsen deutlich unter dem Zinsniveau von US-Dollar und Euro liegen. Beispielsweise leiht sich ein Carry Trader Geld in Yen für nur 0,5 Prozent Zinsen und legt es in US-Dollar mit einer Rendite von drei oder mehr Prozent an. Solange der japanische Yen gegen US-Dollar weiter fällt oder zumindest nicht steigt, geht die Rechnung auf: Der Carry ist positiv.
Im weiteren Sinne kann ein Carry Trade auf jede Differenz zwischen (erwartbar niedrigeren) Finanzierungskosten und einem (erwartbar höheren) Ertrag aus der Anlage in anderen Vermögenswerten aufgebaut werden. So kann auch von Carry Trades gesprochen werden, wenn beispielsweise ein Kreditnehmer mit höherer Bonität einen Kredit zum Kauf von höher verzinsten Anleihen (schlechterer Bonität) nutzt, also den sogenannten Spread als Carry verdient. Auch wer als Privatanleger mit Wertpapierdepot die Möglichkeit eines Effektenkredits nutzt, also seine Wertpapiere als Sicherheit heranzieht, um davon weitere Aktieninvestments auf Kredit zu tätigen, macht in diesem Sinne einen Carry Trade.
Spekulationsgeschäfte mit Verlustrisiko
Schon diese Beispiele machen deutlich, dass es sich bei Carry Trades grundsätzlich um Spekulationsstrategien handelt, bei denen ein Verlustrisiko besteht. Dies ist ein Unterschied zu sogenannten Arbitrage-Geschäften, die in der Regel systematisch sehr kleine Kursdifferenzen mit möglichst großem Volumen nutzen. Bei Arbitrage-Geschäften werden Positionen eingegangen, die sich im selben Zeitpunkt wieder ausgleichen, womit keine Kursänderungsrisiken entstehen. Dagegen halten die Spekulanten beim Carry Trade während der Dauer des Geschäftes offene Positionen und übernehmen damit Risiken. Der (positive) Carry Trade ist also eine Risikoprämie, eine Entlohnung für die Übernahme von Risiken. In der Praxis sind die insgesamt vereinnahmten Risikoprämien höher als die Summe der Verluste (vergleichbar mit der Summe der Versicherungsprämien, die eine Versicherung erhält, die langfristig höher ist als die Summe aller geleisteten Schadenszahlungen).
Carry Trades sind deshalb kein Nullsummenspiel, bei dem die Summe aller Gewinne der Summe aller Verluste entspricht (wie der ein oder andere Kapitalmarkttheoretiker unterstellte). Vielmehr ist die Summe aller Carry Trades positiv. Die Deutsche Bundesbank hat beispielsweise für den Zeitraum von Januar 1999 bis Juni 2005 eine theoretische durchschnittliche annualisierte Rendite von 15 Prozent für eine Carry-Trade-Strategie zwischen Euro und US-Dollar errechnet.
Allerdings kommt es im Einzelfall entgegen der Erwartung des Carry Traders immer wieder zu Marktbewegungen, die zu Verlusten führen. Bei den vorherrschenden Currency Carry Trades besteht das größte Risiko darin, dass die zur Finanzierung verwendete Währung (oft japanischer Yen) im Wechselkurs so stark steigt, dass der vermeintliche Vorteil einer billigen Finanzierung zunichtegemacht wird, weil der Kredit in der verwendeten Währung zurückgezahlt werden muss.
Selbstverstärkender Effekt bei Wechselkursanstieg
Zu einem starken Anstieg des japanischen Yen kam es beispielsweise im Oktober 2008 und zuletzt im Sommer 2024. Um die Verluste zu begrenzen, werden Carry Trades innerhalb weniger Tage aufgelöst. Die zusätzliche Nachfrage nach Yen hat dabei einen selbstverstärkenden Effekt. Um die Yen-Kredite zurückzuzahlen, muss Yen gekauft werden, was den Wechselkurs weiter steigen lässt. Gleichzeitig müssen die Vermögenswerte, die im Rahmen des Carry Trades gekauft wurden, verkauft werden, was somit zu Kursverlusten beispielsweise bei Aktien führt. Werden viele Carry Trades gleichzeitig aufgelöst, kommt es deshalb sowohl an den Devisen- als auch Kapitalmärkten zu Turbulenzen.
Darüber sollte man aber nicht übersehen, dass Carry Trades, wie grundsätzlich alle Spekulationsgeschäfte an den Devisen- und Kapitalmärkten, einen volkswirtschaftlichen Nutzen haben. Sie ermöglichen es Marktteilnehmern, die keine hohen Risiken tragen wollen oder können, diese Risiken auf andere Marktteilnehmer abzuwälzen, die als Spekulanten dafür mit Erhalt der Risikoprämie, dem „Carry“, entlohnt werden – nicht in jedem Einzelfall, aber langfristig und in Summe.